Die Frage nach der Wahrheit, wie sie einst Pilatus stellte, hat über die Jahrtausende viele Antworten erfahren und doch wird sie immer wieder neu gestellt. Offenbar hat uns keine der Antworten befriedigt.
Heute erscheint die Wahrheit komplex. Sie ist bunt, schillernd und vielschichtig. „Divers“ ist wohl der richtige Ausdruck. Sie scheint „fluid“ geworden zu sein. Ungreifbar. Wie eine Fruchtfliege, die sich ins Weißbierglas verirrt hat. Abhängig von Zeit, Ort und von der Person, die sie sucht. Manche meinen, sie sei sogar verhandelbar geworden, am Bazar eines sich ständig wandelnden Zeitgeistes. Ja, manchmal scheint sie heute der Einfachheit halber dem Meistbietenden zugeschlagen zu werden. Dem, der am lautesten schreit. Dem, der es auf der Klaviatur der schnellen Erregung zur Virtuosität gebracht hat. Dem, der sich wissend gibt, oder es in ungebrochenem Selbstbewusstsein wirklich zu sein glaubt.
Die Wahrheit wurde demokratisiert. Man könnte theoretisch sogar über sie abstimmen. Es würde wohl niemanden stören. Auch 97% der Wissenschaftler können sie uns sagen. Im Konsens formuliert. Abgestimmt und budgetär gut unterfüttert. Das ist dann zu akzeptieren. Sie wird veröffentlicht, von verwaisten Kanzeln gepredigt, in Dogmen gegossen, in unzähligen Büchern niedergeschrieben, in einem endlosen binären Datenstrom rund um den Globus gepumpt und in der Schule gelehrt. Sie tönt laut in den Sprechchören der Aktionisten und anderweitig Bewegter auf der Straße, aus den Lautsprechern der digitalisierten Medien, sie springt Dir aus den fetten Lettern der Schlagzeilen mitten ins Gesicht. Undemokratisch, wer meint, dagegen aufbegehren zu müssen. Und plötzlich erscheint sie einem gar nicht mehr so bunt, schillernd und divers. Eher einförmig und grau und exakt abgezirkelt. Die Grenzen, die man schon für obsolet erklärt hat, hier finden sie sich wieder. Unerbittlicher und inhumaner, als es ein Schlagbaum je sein könnte. Illegale Grenzübertritte in Wahrheitsfragen werden sozial geahndet und können im Extremfall zu Jobverlust und Ausgrenzung führen.
Und doch weiß jeder in seinem Herzen, dass die Wahrheit einfach ist. Für jeden begeifbar, der in dieser Zeit noch nicht verlernt hat, das Hören nach innen zu richten und dessen Augen jenseits fetter Schlagzeilenlettern noch Schattierungen wahrnehmen können.
Ich sehe im Gottesdienst die ältere Frau, die mit Bedacht eine Kerze anzündet. Sie, mit den schwielig gearbeiteten Händen, die fern aller akademischen Erziehungsratgeber in der Fremde drei anständige und tüchtige Kinder großgezogen hat, ohne sich ständig zu beklagen und lautstark ihre Rechte einzufordern. Von der vierundzwanzigjährigen Blondine mit dem Kelten-Tattoo am Oberarm im Wohnblock gegenüber wird sie für rückständig und – vornehm ausgedrückt – ein wenig einfältig gehalten, weil sie fünf Stunden in der Woche in der Kirche verbringt. All die verlorene Zeit.
Ich sehe das alte Paar, das in den Bus steigt. Seit über vierzig Jahren sind sie verheiratet. Sie haben den Tod ihres Sohnes miterleben müssen. Durch die schwere Herzerkrankung der Frau muss der hagere und schon etwas klapprige Herr viele Arbeiten im Haushalt übernehmen, die ihm noch vor wenigen Jahren unvorstellbar erschienen. Beim Entwerten des Fahrscheins aber blickt er sie an, wie er es in jungen Jahren tat, als ihre Liebe frisch erblüht war. Sie hatten auch schwere Zeiten, wollten sich aber nie „selbst verwirklichen“ ohne Rücksicht aufeinander zu nehmen. Nun können sie auf ihre gemeinsame Zeit zurückblicken, wie auf einen Schatz, der für alle anderen unsichtbar bleibt. Ihrem dreimal geschiedenen Nachbarn, einem lebenslustigen Endvierziger, erscheinen sie langweilig und schrullig, weil sie nie so „richtig auf den Putz gehauen“ und sich nie nach der schnellen Lust und dem Nervenkitzel eines Abenteuers gesehnt haben. Oft bemitleidet er sie dafür, was sie alles im Leben verpasst haben. All das nicht gelebte Leben.
Ich sehe die junge Frau, am Ende ihres Jugendalters, die ihr Studium abgebochen hat, um zu heiraten und ihrem Kind eine gute Mutter zu sein. Finanziell geht es eng her und deshalb muss sie halbtags zusätzlich in einer Rechtsanwaltskanzlei arbeiten. Das wäre übrigens ihr Traumberuf gewesen. Manchmal erwischt sie sich noch dabei, wie sie sich ausmalt, die Chefin dieser Kanzlei zu sein. Aber dann denkt sie an die unwiederbringliche Zeit mit ihrer kleinen Tochter und an das Leuchten ihrer Augen, wenn sie Mittags heimkommt. Ihre Eltern haben das nie verstanden. Der Vater macht ihr heute noch Vorwürfe. Man habe ihr doch nicht die teure Schule bezahlt, damit sie Kanzleiangestellte wird. All die vergeudeten Talente.
Verlorene Zeit, nicht gelebtes Leben und vergeudete Talente. Das sind in der Sichtweise des gesellschaftlichen Mainstreams Todsünden. Wie alle Sichtweisen, haben sie auch eine andere Seite. Die des Gewinns. Der moderne Mensch soll nach Meinung seiner Konditionierer in Politik und Medien zum Objekt seiner Selbstoptimierung werden. Er soll eingepasst werden in das Werte- und Normengefüge derer, die weder Werte noch Normen anerkennen. Der Weg zur Wahrheit beginnt dort, wo man sich dieser Objektwerdung entzieht und man nicht bereit ist, seine Seele aufzugeben. „Gib mir Deine Seele, und als Gegenleistung erhältst Du Macht und Erkenntnis“, diese mephistophelische Grundversuchung tritt irgendwann in jedermanns Leben. Die Seele aufzugeben, heißt Objekt zu werden. Objekt der Manipulation durch entmenschlichte Konditionierer (C.S. Lewis). ((C. S., Lewis (2015): Die Abschaffung des Menschen. 8. Aufl. Einsiedeln: Johannes)) Das Ergebnis dieser Bestrebungen soll der „freie Mensch“ sein, der sich selbst Gott ist. Im Endergebnis tritt – und dafür sind die historischen Beispiele Legion – das genaue Gegenteil auf. Der Mensch wird entmenschlicht. Er wird zur Marionette und wird an seinen Fäden von seinen Konditionierern mal hierhin und mal dorthin gezerrt, bis er zu zerreißen droht. Derart zum Objekt seiner Manipulation degeneriert, sinkt er schließlich von der Humanität in die Bestialität ab. Die versprochene Freiheit ist der trügerische Talmiglanz derer, die wert- und wurzellos durch die Sinnlosigkeit ihrer Existenz taumeln und sich von einer Fata Morgana zur anderen schleppen, um den Seelendurst zu stillen. Die Wahrheit ist das exakte Gegenteil.